wasi: offener brief: 2007-01-17

Alles Gute zum Geburtstag!

Samosir, den 17. Januar 2007

Liebe Freunde,

Ich wünsche mir hiermit zu meinem 35. Geburtstag alles Gute! Happy birthday to me, happy birthday to me, happy birthday, happy birthday, happy birthday to me! Und wer sich jetzt, mich gut genug kennend, um zu wissen, daß mir mein Geburtstag seit langen Jahren gänzlich gleichgültig ist, wundert, warum ich mich zu meinem 35. Geburtstag beglückwünsche, dem sei verraten, daß ich an jenem Tage, meinem 35. Geburtstag, ein freier Mann bin. Ein freier Mensch, aber insbesondere ein freier Mann. Denn in jenem Land, dessen Name meinen Reisepaß ziert und der es vorsieht, seine männlichen erwachsenen Bürger zu züchtigen, sind es nur und gerade die männlichen Bürger, welche zum Dienst an eben jenem Land zwangsbedienstet werden. Zwangsdienst, welch wohlklingendes Wort! Staatlicher Zwangsdienst, noch viel besser! Fahnenflucht – das klingt nach Hoffnung. 17 Jahre Drückeberger, davon sechseinhalb Jahre fahnenflüchtig. Nun bin ich 35 und per Gesetz befreit. Ende einer Fahnenflucht. Sie kriegen mich nicht mehr! Ich bin frei! Vater Staat bringt uns noch alle unter Mutter Erde. Haben sie schon in den 70er-Jahren an Hauswände gemalt. Damals gab es noch keine Anti-Graffiti-Farbe. Ich sprüh vor Ideen! Bitte wählen Sie das Kästchen neben Ihrer Landesflagge! Willkommen beim staatlichen Zwangsdienst! Wollen Sie gerne mitmachen? Keine Antwort bitte, Sie sind gar nicht gefragt, ist ja eben ein Zwangsdienst, staatlich verordnet, da gibt's keine Wahl. Sie haben auch keinerlei Rechte. Zwangsdiener-Gewerkschaften? Wär ja noch schöner! Und glauben Sie bloß nicht, Sie können sich einfach ins Ausland absetzen! Wir haben schon so manchen zurückgeholt! Leisten Sie keinen Widerstand! Leisten Sie lieber Ihren Beitrag! Und Hauswände werden nicht besprüht! No border, no nation. Legal, illegal, scheißegal. Über mir trötet ein Gecko, und ich laß mir nochmal mit einem großen Grinser das Wort "Fahnenflucht" auf der Zunge zergehen. "Sehr geehrte Damen und Herren, Ich teile Ihnen hiermit mit, daß ich für einen Zeitraum, der sechs Monate überschreitet, das Land verlasse. Mit freundlichen Grüßen." Arschlecken! Ich darf mich also fortan wieder legal in Österreich aufhalten. Kann's kaum erwarten! Einstweilen ziehe ich es jedoch vor, in fernen Ländern zu weilen und mich mit fremden Sprachen herumzuplagen. A good traveler has no fixed plans and is not intend upon arriving, schrieb schon Lao Tse, und so versuche ich, diesmal umso mehr, mich treiben zu lassen, dorthin, wohin ES mich führen will (der Zufall, das Schicksal, das Tao, keine Ahnung was). Und so nimmt es kaum Wunder, daß auf dieser Reise schon wieder mal alles anders kam als gedacht. Noch nicht mal den Flieger nach Bangkok bestiegen, lernte ich, noch auf deutschem Boden, ein paar Traveler kennen, die auf Chiang Mai im Norden Thailands abzielten, um sich dort einer Gaukler-Karavane anzuschließen, die es sich zur Absicht nahm, von Mulis gezogen in China von Dorf zu Dorf zu ziehen und gegen Nahrung zu gaukeln, zu trommeln, mit Feuer zu jonglieren... was unglaublich gut funktioniert hier! Erstaunlich genug: die Landbevölkerung hier in China kennt sowas nicht. Man kann tun, was man will, und es muß nicht mal besonders gut sein – die Leute danken es einem mit Begeisterung, allein schon, weil wir Westler sind und was Lustiges machen. Ich also, nicht mürbe, beschließe noch im Flieger, mich anzuschließen. Kaum eine Woche später sind wir in China und startklar, Wägen, Esel, Gaukler; heiße 35 Euro Startkapital plus Visum, und ich war dabei, frei für ein Zigeunerleben. Drei Wochen lang hab ich den Spaß mitgemacht, dann trafen wir in der südchinesischen Provinz Xiu Pang ein Archäologenteam aus Toulouse. Als sie hörten, daß ich seinerzeit als Archäologiestudent eine Grabungsausbildung absolviert hatte, haben sie mich sogleich für eine andere Grabung ihres Instituts beworben, die grad unter akutem Mitarbeitermangel leidet und mich stante pede aufnehmen würde – im Süden der Mongolei! Rotok Batuk, ein Ort, dessen Name so steinig klingt wie die Landschaft, in die er eingebettet ist. Hier sitze ich nun unter einem riesigen Feldplanenzelt umgeben von Heizstrahlern, denn auch in diesem Land ist es Winter, um mit einer kleinen Kelle zentimeterweise mongolischen Boden abzutragen und ein Gräberfeld des Volks der Xiongnu aus dem zweiten vorchristlichen Jahrtausend freizulegen. Ich bekomme sogar Geld dafür, kann mein ärmliches Französisch aufpeppeln, und am Wochenende mach ich einen Obertongesangskurs. Wohin einen der Zufall doch führen kann!

So, ich geb Euch nun eine Alternative zu dem eben dargestellten Geschehen, denn vielleicht kam ja auch alles ganz anders!

Ich bin nach meiner Ankunft zielstrebig von Bangkok nach Indonesien gefahren, wo ich eifrig und zügig die einfachste Sprache der Welt lerne, nämlich indonesisch, was kräftig begünstigt wird durch den Umstand, daß die Indonesier indonesisch allesamt als Zweitsprache in der Schule lernen und es somit auch keine Dialekte gibt. Einer der jungen, aufgeschlossenen und kontaktfreudigen Indonesier, mit dem ich mich im verträumten Bergstädtchen Bukittinggi angefreundet habe, ist aus dem Stamm der Minangkabau, einem alten matriarchalischen, teils nomadisch lebenden Volk im Hochland Westsumatras, und hat mich – nicht ohne die Erlaubnis der Familien-Matronin einzuholen – zu seiner Familie eingeladen, die während der Regenzeit, also jetzt, in Stelzenhäusern lebt. Ich bringe ihm englisch bei, er mir indonesisch und außerdem den farbenfrohen und sehr lebhaften Tari Payung (auf engl.: Umbrella Dance). Ich tanz ihn Euch dann irgendwann mal vor!

Vielleicht ist aber auch folgendes passiert:

Ich bin auf einem internationalen Hippie-Treffen, auch Rainbow-Gathering genannt, an einer von Dschungel-Bergen abgeschirmten, abgelegenen thailändischen Bucht gestrandet, knacke Kokosnüsse, suche Muscheln, sammle Feuerholz, schneide Gemüse, grabe Shit-pits, lerne indischen Raga singen, hüte das Heilige Feuer, ehre Mutter Erde, tanze im Mondlicht, lasse mich von Grillen in den Schlaf zirpen und von der Sonne aufwecken.

Noch ein paar Varianten:

Ich habe, dem Ruf einer reizenden Frau aus der Schweiz folgend, die mich offenbar nicht minder reizend findet, in Johor Bahru an der Südost-Spitze Malaysiens einen Flieger nach Kuching im Westen Borneos genommen, bin durch den wohl schönsten, zumindest bezauberndsten, bestimmt aber urigsten und unverblümtesten, blumigsten Teil dieses Planeten getingelt, habe, gewissermaßen im Vorübergehen, den höchsten Berg zwischen dem Himalaya und Neu Guinea, den 4095m hohen Mt. Kinabalu erklommen, um schließlich vom Osten Borneos mit dem Schiff auf die Philippinen überzusetzen, wo ich nun der Schweizerin in Ihrem Tattoo-Laden im malerischen Küstenstädtchen El Nido auf der südwestphilippinischen Insel Palawan (welche voller atemberaubend schöner Buchten, Klippen und Strände ist!) zur Hand gehe, und aus Kokos-Schalen kleine Geckos als Halsschmuck schnitze.

Oder:

Ich habe mich in Sumatra auf einer Insel in einem riesigen Vulkankratersee (auf der es übrigens einen kleinen See mit einer klitzekleinen Insel mit einem Baum drauf gibt; soz. eine Insel in einem See auf einer Insel in einem See auf einer Insel im Meer) zur Ruhe gesetzt und schreibe meine Memoiren.

Ich bin wieder auf meiner experimental organic farm angekommen und lerne eifrig über Permakultur. In den Tropen ist das halt um so viel einfacher, man kann zu beliebigem Zeitpunkt des Jahres anpflanzen! Ich glaub, ich übersiedle meine Hütte hierher...

Ich bin gar nicht weggeflogen sondern mache heimlich in meiner abgeschiedenen Eremitenhütte im burgenländischen Seewinkel einen dreimonatigen Retreat.

Ich bin schon längst tot und habe aber einen Ghost-Liver (sowas ähnliches wie ein Ghost-Writer, nur daß er für einen lebt anstatt schreibt) engagiert, damit Ihr nach meiner Rückkehr nach Europa den Eindruck habt, ich lebe weiterhin unter Euch.

Ich mache derzeit den Tauchschein im Süden Thailands und schwebe gerade zwischen schillernden Korallen, bunten Anemonenfischen und anmutigen Wasserschildkröten umher.

Ich befinde mich im taoistisch-buddhistischen Kloster Wat Suan Mokkh, bin des Tags mit sitzen und gehen beschäftigt und pflege dazwischen die Tee-Zeremonie.

...

All dies sind Geschichten, die mir vielleicht passierten, oder auch nicht, oder auch jemandem anderen um mich herum, der vielleicht ist wie ich, oder auch nicht, oder die auch niemandem passierten. Eine geschickte Kombination von Teilen dieser Geschichten führt Euch jedenfalls zur tatsächlichen Geschichte, was immer das eigentlich sein mag, und falls es sowas, eine tatsächliche Geschichte, überhaupt gibt, denn Geschichten finden immer nur im Kopf statt. Das einzige, was wirklich real ist, ist, daß ich gerade in einem Internetcafe sitze und tippel... Und eigentlich ist es gänzlich einerlei, welche dieser Geschichten mir tatsächlich widerfuhr und widerfährt. Relevant ist, daß sie alle (fast alle) mögliche Geschichten sind, daß mir jede von diesen tatsächlich widerfahren könnte und – der Parallele Welten-Theorie zufolge – in irgendeinem der vielen abgespalteten Paralleluniversen tatsächlich passiert. In welchem dieser wir uns wiederfinden, ist belanglos und verliebtes Trugbild unseres kleinen, großen Ichs, dessen Ernst an dem hängt, was wir tun. Aber nicht was ich tue und was mir passiert ist wichtig, sondern was um mich herum passiert. Wir beschäftigen uns viel zu sehr mit uns selbst und dem, was uns wirklich passiert, und sehen viel zu wenig das Wunder um uns herum, mit dem unser großes, kleines Ich wohl auch verflochten ist, und aus dem es das Mögliche schöpft, wenn es nur das gerade vermeintlich Tatsächliche losläßt. Das eigentliche Geschehen ist holographisch. Und wenn man nun erfassen will, was vor sich geht in einem Leben – nur darum geht es ja eben in so einer Beschreibung – müßte man alles miteinbeziehen, nicht nur was ist, sondern auch was sein könnte, nicht nur das eigene Geschehen, sondern auch das der Menschen, auf die man im Laufe so einer Reise, wie der Reise durchs Leben überhaupt, trifft. Ja man müßte die Geschichten aller gleichzeitig erzählen, und alle möglichen und tatsächlichen Geschichten aller gleichzeitig – nur dann könnte man einen Funken dessen erfassen, was tatsächlich gerade vor sich geht, hier bei mir in meinem Leben, mit all den Ideen und Möglichkeiten, die vielleicht im nächsten Augenblick, der schon lange geschehen ist, bevor Ihr das hier lest, eintreten, oder auch nicht; in meinem Leben, das ein Teil des und eingeflochten ins Leben aller ist. Wollt Ihr mir auch Eure – wie die aller – möglichen und tatsächlichen Geschichten gleichzeitig erzählen? Dann kämen wir aus dem Erzählen nicht mehr heraus und hätten keine Zeit mehr für die Geschichten selbst. Wenn Ihr Lust habt, so pickt also irgendeine beliebige heraus und erzählt sie. Keine gute, keine tolle, keine große. Die kleinen, unwichtigen, bedeutungslosen sind die besten! Nur zu! Dann sehen wir wieder mehr, was um uns herum ist, und das ist viel interessanter, viel packender, viel erfüllender, viel schöner, und viel erweckender als so eine eigentlich belanglose und doch für ach so wichtig und richtig erachtete Geschichte. Lao Tse sagt: Don't keep searching for the truth, just let go of your opinions. Step aside from all thinking, and there is nowhere you can't go.

In diesem Sinne sende ich Euch meine wärmsten, weil tropischen Grüße!

Und zum Abschluß jetzt noch schnell einige Begriffe aus dem täglichen Leben hier:

Bambus Reis Regen Schlangenhautfrucht Affe Vulkan Palme Banane Gecko Gitarre Blüte Fähre Hitze Meer Kokos Moped Markt Avocado Sonne Dschungel Dampf Stachel Strand Plantage Generator Schwefel Bus Muschel Haut Flipflops Kaffee Tiger Moos Ufer Koralle Quelle Tempel Grenze Insel Feuer Gemüse Mond Bucht Schmuck Fisch Visum Gischt Sprache Liane Sand Magen Hochland Tofu Frucht Schatten Mönch Pfad Welle Wasserfall Höhle Berg Gong Funken Trommel Chilli Skorpion Bohne Kakerlake Ananas Hängematte Tee Büffel Schote Moskitonetz Nelkenzigarette Straßenverkäufer Krater Welpe Mangosteen Hafen Nuß

Ein paar häufig gebrauchte Zeitwörter:

glitzern rauschen schwimmen flattern funkeln feilschen schillern spalten glimmen triefen tropfen strahlen kosten erklimmen graben spucken räuchern schwingen klingen singen schnurren schälen klettern glänzen stinken treiben rutschen surren dampfen springen reifen fließen ranken knirschen warten tauchen tosen trocknen duften spritzen zischen zirpen blubbern kreischen speien kriechen krähen plätschern knacken braten flechten fächern sprießen tönen brutzeln stechen schlüpfen kleben sprühen fauchen knistern pflücken

Und nun die zugehörigen Eigenschaftswörter:

heiß naß hell scharf feucht braun gebraten pur reif schrill freundlich wackelig glitschig süß dicht gewagt samtig holprig matschig rau laut langsam nackt trocken heilig verstimmt hoch fett rutschig kühn roh weich tief gefährlich wach spröde weit geschmeidig kaputt neugierig gerissen gemütlich bitter bissig eng träge frisch lecker intensiv steil dreist schmal fein köstlich üppig niedrig flink

So, und wer aus der Kombination dieser Wortgruppen unter Zuhilfenahme beliebiger Hilfswörter möglichst viele Sätze bilden kann, die einen (tatsächlichen oder möglichen) Aspekt meines derzeitigen Lebens treffen, der hat gewonnen!

Selamat jalan!

          A l b e r t  :)

 

 

 

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